Jüdisches Leben in Deutschland heute – 4 Bücher

Antisemitismus in Deutschland nimmt zu oder war nie richtig weg. Die faschistische Partei AfD wird von 1/4 der Wahlberechtigten gewählt. Ist jüdisches Leben in Deutschland noch möglich?

Vier Bücher über jüdisches Leben in Deutschland aus unserer Schulbibliothek möchte ich in diesem ersten Artikel nach den Sommerferien 2023 vorstellen:

Schonzeit vorbei!

Juna Grossmann, die Autorin von „Schonzeit vorbei! – Über das Leben mit dem täglichen Antisemitismus“,  kenne ich sogar persönlich. Für die Autorin konnte ich zusammen mit dem Canstein Bibelzentrum eine Lesung in den Franckeschen Stiftungen organisieren.

Zum Buch: Es ist nur ein dünnes Bändchen, das vor mir liegt. Es hat gerade 157 Seiten. Ich stolpere über die Unterzeichnungen, die ich beim ersten Lesen vorgenommen habe. Ich lese Abschnitte erneut. Ich schüttele wieder den Kopf. Es kommt mir so vieles unglaublich vor. Dabei sind es fast alles alltägliche Erlebnisse und die Erzählerin, Frau Grossmann, war beim Erleben genauso schockiert wie ich beim Lesen. Oft kommt es mir so vor, dass sie es aufschreiben mußte, um es richtig zu begreifen.

Juna Grossmann liest in den Franck. Stiftungen aus ihrem Buch

Juna Grossmann ist in der DDR aufgewachsen, sie ist eine echte Berliner Pflanze. Ihre Eltern sind Deutsche, ihre Großeltern waren Deutsche. Juden gab es auf dem heutigen deutschen Boden seit dem römischen Reich. Sie lebten hier, bevor es überhaupt Deutsche gab. Als sie Anfang 20 ist, wurde ihr gesagt, sie solle endlich in ihre Heimat zurückgehen. Fast zur gleichen Zeit wurde sie von einem Rabbiner gefragt, ob sie sich wirklich zu ihrem jüdischen Glauben bekennen möchte: „Du könntest jetzt in Sicherheit leben, wenn du niemanden sagst, was du bist.“ Eine trügerischere Sicherheit, wie sich schon einmal herausgestellt hat. Doch Frau Grossmann hat sich trotzdem für ihr Judentum entschieden.

Es ist es ein sehr persönliches Buch, das Frau Grossmann hier vorlegt: Es handelt von ihrer Kindheit in der DDR, von ihrem Weg zum jüdischen Glauben. Ein erster Einschnitt ist der 11. September 2001. Sie erlebt das erste Mal offenen Antisemitismus, als jemand in der scheinbar geschützten Atmosphäre im Jüdischen Museum Berlin sagt: „Das waren doch die Juden!“ Ein anderer Einschnitt ist der Bundeswahlkampf 2002 des Herrn Jürgen Möllemann und ein antisemitischer Wahlkampfflyer. Sie lebte eine Zeitlang in den USA, wo „das Judentum auch dann nicht abgesprochen wird, wenn man seit Jahren keine Synagoge mehr gesehen hat.“ Nach fünf Jahren kehrt sie nach Berlin zurück. Sie hatte Heimwehr und war trotz der Normalität des jüdischen Lebens in den USA als deutsche Jüdin dennoch eine Exotin.

Es ist ein Buch der vielen kleinen Geschichten. Allerdings sind es wahre Geschichten: Es geht um Leserbriefe, um Beschwerdemails, auch um den Hass im Internet und dort besonders um die sogenannten sozialen Netzwerke. Frau Grossmann erzählt von einer Vermieterin, die nicht an Juden vermietet, um religiöse Symbole im Alltag (auch um den Davidstern, den in meiner Jugend auch viele christliche Jugendliche trugen) und wie es ist, wenn man bei einer Bewerbung angibt, dass man jüdisch ist. Ach ja, und auf welche Schule schickst du deine Kinder, wenn du jüdisch bist? Sie erzählt von Verharmlosung, Ablenkungsstrategien und der deutschen Gedenkkultur. Der Plauderton der Autorin macht den Inhalt nicht erträglicher, im Gegenteil.

Die Schonzeit ist vorbei. Welche Schonzeit?, fragt sich Frau Grossmann. Der Judenhass ist aus Deutschland nie verschwunden. Er hat sich nur eine Zeitlang versteckt. Er ist auch nicht neu eingewandert. Gedenkorte werden zu „Denkmälern der Schande“. Den Juden wird niederträchtig selbst die Schuld für Antisemitismus gegeben. Juna Grossmann sitzt auf gepackten Koffern, ich kann es gut verstehen. Doch weil sie sich damit nicht abfinden kann, hat sie dieses Buch geschrieben, auch um uns alle zu warnen. Denn es liegt an uns, ob wir bald selbst die Koffer packen müssen oder ob wir es schaffen, dass Juna Grossmann ihren Koffer wieder auspacken kann.

Über Israel reden

Über Israel reden die Deutschen gerne. Ausgehend davon hat Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, hat mit „Über Israel reden : Eine deutsche Debatte“ ein Buch über die einzige Demokratie im Nahen Osten geschrieben. Er war selber israelischer Soldat, ist aber mit einer Muslima, Saba-Nur Cheema, die aus Pakistan stammt, verheiratet. Beide schreiben zusammen in der Zeitung FAZ eine Kolumne unter dem Titel „Muslimisch-jüdisches Abendbrot“.

Mendel beginnt sein Buch sehr persönlich über seine Zeit in der israelischen Armee, über sein Studium in Deutschland und seine Desillusionierung, was Israel betrifft, durch die erneute Wahl von Benjamin Netanjahu und seinen rechtsextremen Verbündeten. Mendel hat den Eindruck, dass Israel sich abschafft. Aber dass ist nur der Einstieg in das Buch, denn es geht hauptsächlich um die deutsche Perspektive auf Israel. Oder wie er es ausdrückt: Es geht um die „80 Millionen Nahostexperten“. Mendel findet: „Die leidenschaftlichsten Unterstützer der israelischen und der palästinensischen Sache leben in Deutschland – aber die meisten von ihnen haben nicht die leiseste Ahnung von der Situation vor Ort.“

Mendel wirft einen Blick darauf, wie wir Deutschen auf Israel schauen. Dabei läßt er auch Reizthemen wie den BDS-Streit (BDS = Boycott, Divestment and Sanctions („Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“)) nicht aus. Mendel bietet kein Patentrezept, er macht aber nachdenklich. Die Frage am Ende ist: „Wird es jemals möglich sein, hier in Deutschland eine sachliche Debatte über Israel zu führen?“ Mit diesem Buch sind wir in der Angelegenheit zumindest einen Schritt weiter.

Nach zwei Sachbüchern gibt es auch die Möglichkeit, sich dem Thema belletristisch zu nähern:

Vater, Mutter, Kind zwischen Chicago und Spiekeroog

Vater, Mutter, Kind hat bei Avi, Marsha und Margarita ganz und gar nicht funktioniert. Exemplarisch erleben wir einen Sommer im Leben dieser „Nichtfamilie“. Margarita sollte die Ferienzeit wie jedes Jahr bei den Großeltern mütterlicherseits in Chicago verbringen. Aber die Erwachsenen haben plötzlich eine neue Idee: Margarita, die ohnehin Berlin und ihre Freunde vermisst, soll zu ihrer Mutter nach Jerusalem, die an der dortigen Universität einen Lehrauftrag angenommen hat. Auf diese Weise soll Margarita auch das Heimatland ihres Vaters kennenlernen. Marsha, die Mutter, hat ihre Familie kurz nach Margaritas Geburt verlassen. Avi verblieb als alleinerziehender Vater in Berlin. Dort arbeitet er als Kantor für eine der jüdischen Gemeinden.

Dieser neue Versuch Marshas, sich der Tochter anzunähern, scheitert grandios. Die Tochter wird am Flughafen vergessen. Daran ist natürlich nicht Marsha schuld. Auch eine Rundreise durch Israel bringt Mutter und Tochter nicht näher. Avi sieht sich gezwungen, nachdem Margarita nirgendwo aufzufinden ist, selbst nach Israel zu fliegen, um sich um die pubertierende Tochter zu kümmern, die zudem gerade mit einem Israeli sexuelle Erfahrungen vertiefte.  Avis eigener Urlaub auf Spiekeroog verlief unschön, da die Frau, die ihm nachreiste andere Absichten hatte, als Avi gehofft hatte. Dementsprechend schlecht ist er auf das Treffen mit Marsha und Margarita seelisch vorbereitet.

Aufgewühlt durch Margaritas kurzfristiges Abtauchen in Israel hat die Großmutter in Chicago einen Unfall und Vater, Mutter, Kind fliegen in die USA. Erst nachdem die bei der Großmutter eine Gesundung in Aussicht ist, kehrt Avi zu seiner Arbeit nach Berlin zurück und Marsh nimmt eine Professorenstelle an einer der Universitäten in Chicago an. Beide Elternteile möchten, dass Margarita bei ihnen bleibt. Die Tochter muss sich entscheiden. Offen und doch offensichtlich beendet die Autorin ihren Roman mit einem etwas süßlichen Schluss.

Tatsächlich ist „Gewässer im Ziplock“ ein glaubwürdig erzählter Sommer eines fünfzehnjährigen Mädchen im Konflikt mit vielen Identitäten, einem getrennten zerrissenen Eltern“haus“, dominanten Großeltern und den eigenen Wünschen inkl. der Entdeckung der Sexualität. Die Charakterisierung der drei Hauptpersonen, die Jugendliche, der einsame Kantor in der zweiten Hälfte seines Lebens, die Mutter, unfähig Mutter sein zu wollen, aber mit viel schlechten Gewissen, ist grandios und eine beeindruckende Stärke der Autorin. Aber auch die Nebenfiguren sind sehr lebendig geschildert wie z.B. die Großmutter.

Aber es wird auch übertrieben. War es für den Inhalt so wichtig, dass Margaritas liebste Freizeitbeschäftigung die Selbstbefriedigung ist? Ist es nötig so zu provozieren (s. nachfolgendes Zitat)? „Im Museums-Shop gab es zwanzig Prozent Rabatt auf Totes-Meer-Handcreme. Ob es in Auschwitz auch Handcreme gab, mit Tote-Juden-Asche?“

Der Roman ist also handwerklich gut gelungen, mehr noch, die Handlung vermag zu fesseln. Abbruchsgelüste im vorletzten Teil kamen eher durch die Zuspitzung der Konflikte und waren nicht von Inhalt oder Lesbarkeit verursacht. Es ist eins der besten Jugendbücher, dass ich in letzter Zeit gelesen habe, ohne ein Jugendbuch sein zu wollen.

Misslungen fand ich dagegen den Titel, der wohl eher eine Rätselaufgabe war. Was haben „Gewässer im Ziplock“ mit der Familie und ihren Identitäten zu tun? Wasser, Tränen, Menstruationsblut, Sperma, Margaritas hatte da einiges in wiederverschließbaren Tütchen abzupacken, so könnte eine Erklärung lauten. Eigentlich viel zu viel für ihr Alter! Aber wird daraus ein Romantitel?

Selbst wenn die Geschichte auch ohne jüdischen Hintergrund gut erzählt werden könnte, ist es doch gerade dieser Hintergrund, der die Fragen nach Identität und Heimat angesichts der Shoah und all der Folgen noch einmal verschärft. Die Frage stellt sich jedoch, ob die Geschichte für die deutsche Leserschaft funktioniert. Es ist zwar ein Glossar vorhanden, aber dies hätte etwas ausführlicher sein müssen, da viele Begriffe für Nichtjuden nicht selbstverständlich sind. Für die Lesbarkeit wäre es sehr nützlich gewesen.

Die Autorin braucht beim Verhältnis Juden/Deutsche nicht zu übertreiben oder zu verfremden. Schüsse auf eine Synagoge wie in Halle und das Erschießen von Passanten aus Wut auf Juden sind etwas, was sich Vowinckel nicht ausgedacht hat. Der deutsche Antisemitismus, aktuell sogar in einer Landesregierung (Bayern) vorhanden, ist etwas, was uns aktuell beschäftigt. Dabei malt die Autorin niemals schwarzweiß. Sie redet nicht um die Widersprüche und die Vielfältigkeiten herum. Sie beschreibt sie mit Augenzwinkern, manchmal auch mit Humor (Krabbenbrötchen), aber es hängt in den Augenwinkeln immer eine Träne. „Alles, was sie wollte, war, dass jemand sie schön fand.“ Jenseits, aller Identitäten, ist dieser Satz aus dem Roman die beste Zusammenfassung für „Gewässer im Ziplock“.

Unorthodox

Den Roman „Unorthodox“ von Deborah Feldman, die inzwischen  wie oben Dana Vowinckel in Berlin lebt, habe ich leider noch nicht gelesen. Das Buch ist aber inzwischen von Netflix als Fernsehserie herausgebracht. Es ist auch keine fiktive Erzählung, sondern der autobiografische Bericht einer jungen Frau, aus einer  jüdisch-chassidischen Sekte in New York stammend, jiddisch aufgewachsen. Der Verlag schreibt dazu:

„Am Tag seines Erscheinens führte »Unorthodox« schlagartig die Bestsellerliste der New York Times an und war sofort ausverkauft. Wenige Monate später durchbrach die Auflage die Millionengrenze. In der chassidischen Satmar-Gemeinde in Williamsburg, New York, herrschen die strengsten Regeln einer ultraorthodoxen jüdischen Gruppe weltweit. Deborah Feldman führt uns bis an die Grenzen des Erträglichen, wenn sie von der strikten Unterwerfung unter die strengen Lebensgesetze erzählt, von Ausgrenzung, Armut, von der Unterdrückung der Frau, von ihrer Zwangsehe. Und von der alltäglichen Angst, bei Verbotenem entdeckt und bestraft zu werden. Sie erzählt, wie sie den beispiellosen Mut und die ungeheure Kraft zum Verlassen der Gemeinde findet – um ihrem Sohn ein Leben in Freiheit zu ermöglichen. Noch nie hat eine Autorin ihre Befreiung aus den Fesseln religiöser Extremisten so lebensnah, so ehrlich, so analytisch klug und dabei literarisch so anspruchsvoll erzählt.“

Eine Stelle in dem Roman möchte ich am Ende zitieren: „Und wirklich, diese Stadt [Berlin] ist ein Zuhause für diejenigen, die keines haben, ein Ort, an dem sogar diejenigen Wurzel schlagen, die scheinbar keine entwickeln können. Ich habe hier Freunde und Angehörige gefunden, die jene ersetzen, welche ich verloren habe. Ich fühle mich jetzt geliebt und geschätzt, wie ich es nie für möglich gehalten habe.“ zitiert aus Deborah Feldman „Unorthodox“, S. 378

Inzwischen hat die Autorin ein ganz anderes Verhältnis zur Stadt (und Deutschland) gefunden und sie fragt sich dabei: „Ja, Berlin war es, das neue Leben in Deutschland war es, der Grund, warum plötzlich all diese Fragen in mir aufzogen. Ich hatte mich vom Thema jüdischer Identität in der Gegenwart weitgehend verabschiedet, ich wollte nur Mensch unter Menschen sein, Berliner unter Berlinern. Wie weit ist mir das überhaupt gelungen? Wie habe ich es auszuwerten, dass dieses Deutschwerden, worum ich mich so fleißig bemüht habe, mich zu meinem Judentum wieder zurückschob wie zu einer unerfüllten Pflicht, die kein Vertagen mehr duldet?“ zitiert von https://www.deborahfeldman.de

Haben wir Deutschen einen „Judenfetisch“, wie Frau Feldman meint und ist dieser Blogbeitrag ein Teil davon? Oder sind wir doch die guten alten Antisemiten, die Juden hassen, so wie AfD, Aiwanger und Co.? Ich weiß es nicht, aber durch das Lesen dieser vier Bücher könnt ihr Euch in der Schulbibliothek einen eigenen Eindruck verschaffen.

Euer Schulbibliothekar

 

 

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